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Eilmeldungen die keine sind – von Nachrichten, die auch keine sind

Artikel von 10.02.2012, überarbeitet 28.10.2023:

Wer sich einen Augenblick Zeit nimmt und sich dabei in Ruhe vor Augen hält, was uns heute als Nachrichten präsentiert wird, merkt sicherlich, dass hier etwas grundlegendes nicht mehr stimmt. Es geht dabei um nichts geringeres, als um die Nachricht selbst. Sie wird dem formulierten Anspruch der vierten Säule der Demokratie immer häufiger nicht mehr gerecht. Dies ist eine sehr ernste Entwicklung, da eine gesunde Presse - sprich ausgewogenen Presse -  immanent für die Demokratie ist. Eine Bestandsaufnahme zeigt, wieso wir in einer ernsten Medienkrise stecken.


Definition „Eilmeldung“:

Eine Eilmeldung (engl. breaking news) bezeichnet eine aktuelle Meldung, die wegen ihrer Wichtigkeit besonders hervorgehoben wird.[…] In den elektronischen Medien, wie Hörfunk und Fernsehen, kann dafür das laufende Programm unterbrochen werden, um aktuell von einem sich zeitgleich ereignenden Geschehen zu berichten.[…]Es geht bei einer Eilmeldung also um essentielle Geschehnisse, welche besonders schwerwiegend sind und enorme Reichweiten haben.

Irrelevanz statt Relevanz

Negativ aufgefallen ist mir hier RP-Online. Der Online-Ableger eines der größten regionalen Zeitungen Deutschlands, nämlich der „Rheinischen Post“, die als konservativ gilt.

Betrachten Sie bitte einen Augenblick das folgende Bild:


Lassen Sie es ruhig auf sich wirken.

Eilmeldung? Worum geht es? Genau, eine Fußballmannschaft aus einer Stadt mit etwas über 3000 Einwohnern hat einen neuen Trainer gefunden. Wahrlich essentielle Geschehnisse sind hier am Werk. 

Bei der wichtigen Art  von Themen ist es doch verständlich, dass diese „Zeitung“ es versäumt darüber zu berichten, dass in USA zum ersten Mal seit 30 Jahren wieder Atomkraftwerke gebaut werden.

Doch ist es nicht schön, dass wir in einem freien Land leben, indem ausgewogen berichtet wird? Beneidet uns nicht die ganze Welt um unsere Medienvielfalt? Dürfen wir es wagen diese in Frage zu stellen? Wie weit ist es denn her mit der Vielfalt?

Über die News-Funktion der Suchmaschine „Google“ können wir uns die Quellenanzahl zu aktuellen Nachrichten anzeigen lassen(Anmerkung: diese Funktion gibt es heute nicht mehr...). Hier ein kleiner Auszug:


Eins ist deutlich, wo unsere Medien die Aufmerksamkeit (bewusst?) hinlenken; wo sie Prioritäten setzen. Über 750 Meldungen zu den eben besagten Trainerwechsel und nur 120 Berichte zu aktuellen Kriegsgeschehnissen. 

Kopieren statt studieren

Doch wollen wir fair bleiben. Nicht die Quantität, sondern die Qualität einer Meldung ist entscheidend. Qualität in der Medienvielfalt heißt vor allem Vielfalt.

Werfen wir also einen Blick auf die Vielfalt.

Financial Times Deutschland:

In Syrien droht humanitäre Katastrophe
In der syrischen Protesthochburg Homs können Ärzte kaum noch die Verletzten versorgen. Mehr als 100 Menschen sollen wieder vom Assad-Regime getötet worden sein. Die internationale Diplomatie reagiert entsetzt.
In der syrischen Protesthochburg Homs bahnt sich nach sechstägigem Dauerbeschuss eine humanitäre Katastrophe an.


N-TV:

Blutvergießen in Syrien
Panzer rollen in Homs
In der syrischen Protesthochburg Homs herrschen katastrophale Zustände. Wieder kommen zahlreiche Menschen beim Einsatz des Militärs gegen Gegner des Assad-Regimes ums Leben. US-Präsident Obama und Bundeskanzlerin Merkel äußern sich persönlich betroffen. Die EU appelliert an Russland, eine UNO-Resolution zu Syrien doch noch zu unterstützen.
In der syrischen Protesthochburg Homs bahnt sich nach sechstägigem Dauerbeschuss eine humanitäre Katastrophe an.


Stern.de

Homs liegt im Dauerfeuer von Assads Armee
Die Aufständischen in Homs stehen unter Dauerbeschuss der syrischen Armee. Eine humanitäre Katastrophe steht offenbar unmittelbar bevor: Es gibt kein Entfliehen, Lebensmittel werden knapp und in der ganzen Stadt sollen nur noch drei Ärzte arbeiten.
In der syrischen Protesthochburg Homs bahnt sich nach sechstägigem Dauerbeschuss eine humanitäre Katastrophe an.


Welt-Online

Assads Armee bombt Homs zur Geisterstadt
Verkohlte Leichen, verzweifelte Kämpfer: Die Rebellenhochburg steht vor einer humanitären Katastrophe. Verletzte werden in Untergrund-Kliniken behandelt.
In der syrischen Protesthochburg Homs bahnt sich nach sechstägigem Dauerbeschuss eine humanitäre Katastrophe an.

 

Focus

Eine Stadt liegt im Sterben
In der syrischen Protesthochburg Homs herrschen katastrophale Zustände. Es sollen wieder mehr als 100 Menschen beim Einsatz des Militärs gegen Gegner des Assad-Regimes getötet worden sein. Lebensmittel werden knapp, und es gibt kaum mehr Ärzte.
Seit sechs Tagen steht Homs unter Dauerbeschuss der Assad-Truppen: Nun bahnt sich in der Protesthochburg eine humanitäre Katastrophe an.


Süddeutsche.de

Eingekesselter Rebellenstadt Homs droht humanitäre Katastrophe
Es fehlt an Essen, Heizöl, Medikamenten: Die Protesthochburg Homs steht seit Tagen unter Dauerbeschuss, erneut sterben viele Menschen. US-Präsident Obama fordert, das "abscheuliche Blutvergießen" zu beenden. Eindringlich appelliert die EU an Syriens Schutzmacht Russland, die Blockade im UN-Sicherheitsrat zu beenden.
Nach dem sechs Tage andauernden Dauerbeschuss droht in der syrischen Protesthochburg Homs eine humanitäre Katastrophe.


Man könnte noch unzählige weitere "Berichte" in diese Liste einfügen. Scheinbar fällt allen Zeitungen genau der gleiche Satz zum Dauerbeschuss der Stadt Homs ein.  Besteht die Qualität der Medien heute darin, den Satzbau abzuändern? Die Medienvielfalt, die für eine freie demokratische Gesellschaft notwendig ist, wird heute nicht mehr durch die Leitmedien abgebildet. Wer Gegenstimmen sucht, findet diese oftmals nur in alternative Medien. Denkt man sich den Youtube-Bürgerjournalismus einmal weg, wird es beängstigend einseitig.

Unweigerlich drängt sich die Frage auf, ob die Redaktionen überhaupt noch bezahlte Journalisten und Redakteure haben, die Recherche betreiben und selbst Artikel schreiben. Es sind im übrigens die gleichen Medien, die Karl-Theodor zu Guttenberg für das Kopieren von Texten an den Pranger gestellt haben. Doch waren es nicht auch diese Medien, die beim Bekanntwerden von zu Guttenberg selbst seinen Namen falsch aus Wikipedia kopierten?

Nachtrag 2023:

Die damalig beobachteten Tendenzen haben sich nicht zum besseren gewandelt. Zu den Punkten "Irrelevanz vor Relevanz" und "kopieren statt studieren" können wir heute leider "Rufmord und Zersetzung von Gegenstimmen" hinzufügen. 

Meinung, statt Berichterstattung

Die Medienhäuser haben ihre Arbeitsweise in den letzten Jahren geändert. Statt der objektiven Berichterstattung ist nun der politische Aktivismus Modus Operandi. Dies ist sogar in den Leitmedien offen dargelegt, so heißt es im SPIEGEL-Artikel "Gegenwart und Zukunft des Journalismus - 

Die Zeit der Neutralität ist vorbei", Zitat:


Das amerikanische Journalismusmodell, das vor 20 Jahren auch mir an der Journalistenschule in New York eingeimpft wurde, basiert auf einer strikten Trennung zwischen Fakten und Meinung. Persönliche Ansichten von Autoren sind grundsätzlich nur auf den dafür kenntlich gemachten Seiten zugelassen, der Rest der Zeitung habe aus quasi objektiven Fakten zu bestehen. Deswegen ist bis heute bei Institutionen wie der “New York Times” das Meinungsressort räumlich und personell vom Rest der Redaktion isoliert wie eine Quarantänestation.


Und weiter:


All dies soll Neutralität gewährleisten. Neutralität galt jahrzehntelang als Qualitätsmerkmal, als noble Erhabenheitsgeste der seriösen Presse. Die Einsicht, dass hinter jedem Text mit noch so großem Neutralitätsanspruch ein Autor mit eigener Biografie steckt, die sich in der komplizierten Welt von heute mit all ihren vielfältigen und verschränkten Identitäten kaum mehr missachten lässt, hat sich erst in den vergangenen Jahren im Journalismus niedergeschlagen. Der Neutralitätsjournalismus, der scheinbar von einer “Position aus dem Niemandsland” kommt, wie es der New Yorker Medienforscher Jay Rosen bezeichnete, wirkt heute nicht nur uninteressant und unaufrichtig. 


und


Donald Trump konnte überhaupt nur gewählt werden, weil die “New York Times” oder der Nachrichtensender CNN mit ihrem Anspruch auf journalistische Fairness den abstrusesten Faktenverdrehungen immer wieder Raum gegeben haben.


und


Wer stets allen Positionen Raum verschaffen will, macht es sich einfach und begibt sich in eine moralische Indifferenz.

Quelle: SPIEGEL - Leider hinter einer Paywall


Der MDR verkündet:

Konstruierte Wirklichkeit
Der Blick auf die Informationsvermittlung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert: Die traditionelle realistische Perspektive, nach der Medien die Wirklichkeit abbilden und damit ein realitätsgetreues Abbild an ihre Leser, Hörerinnen und Nutzer vermitteln, ist einer anderen Einstellung gewichen. Mittlerweile werden Medien eher aus konstruktivistischer Perspektive betrachtet. Dabei wird angenommen, dass Medien an der Konstruktion der Wirklichkeit maßgeblich beteiligt sind und damit ein bestimmtes Bild der Realität erzeugen.


und

Hinzu kommen eventuelle wirtschaftliche Schwierigkeiten des Medienhauses, Klicks, Auflage, thematische Ausrichtung etc.



Die Frankfurter Rundschau schreibt:

Es wäre auch ein Auftrag an alle, die mediale Vermittlung des Weltgeschehens nicht als Wahrheitsmaschine zu verstehen, sondern als Angebot.



Was einem hier als kritischer Debattenbeitrag über die Objektivität von Journalismus unter die Nase gehalten wird, ist im Kern die Absprechung der Fähigkeiten der Leser, Berichte selbst einordnen zu können. In Gegenwart und Zukunft wird Ihnen das "Bericht erstattende" Medium das Denken abnehmen und eine eigene Einordnung des Sachverhalts vornehmen. Um eigene Narrative zu stützen, fügen die Medien heute ausgedachte Inhalte in ihre Beiträge ein, so wie es Herr Niklas Keck oder Claas Relotius vom SPIEGEL machen. Irgendwie muss man ja auf die Klickzahlen kommen um attraktiver Werberträger für den militärisch-industrieller Komplex zu bleiben. In einem Gerichtsverfahren des Axel-Springer-Verlags gegen einen Werbeblocker fassen die eigenen Anwälte den Journalismus daher folgerichtig zusammen:


"Das Kerngeschäft der Klägerin ist die Vermarktung von Werbung. Journalistische Inhalte sind das Vehikel, um die Aufmerksamkeit des Publikums für die werblichen Inhalte zu erreichen."




Die Medien haben sich von ihrer ursprünglichen Rolle als Hüter der Demokratie entfernt und stellen mittlerweile eine potenzielle Gefahr für ebendiese dar, indem sie den Anschein von Vielfalt und Neutralität wahren, ohne diesem Anspruch noch angemessen zu genügen.

Christian Beckmann 6. Juni 2024
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